Leseprobe
Fast hätte er den Kollegen übersehen. Bobby Friedrich stand am Donauufer, seine Kamera im Anschlag und starrte in Richtung Eiserne Brücke. Das Objektiv wirkte etwas überdimensioniert angesichts der kleinen Kamera. Aber offenbar hatte er ein Ziel in einiger Entfernung anvisiert.
»Was machst du denn da?«, fragte Thomas überrascht. Bobby schenkt ihm nur einen ganz kurzen Blick, dann starrte er wieder Richtung Eiserne Brücke.
»Wieso bist du nicht auf dem Mittelaltermarkt und machst die Fotos für die Montagsausgabe?«
»Geh erst abends wieder hin«, sagte Bobby knapp und wandte den Blick nicht von der Brücke. Thomas folgte diesem Blick und sah erst jetzt die schwarz gekleidete Frau, die auf der Brücke stand und ins Wasser starrte. Thomas brauchte noch ein paar Sekunden, bis ihm klar war, worauf Bobby wartete.
»Sag mal, spinnst du? Der muss man doch helfen!«
»Was willst machen, wenn ein Mensch nicht mehr leben will«, sagte Bobby und ging vorsichtig ein paar Schritte näher. Ganz behutsam, als wollte er ein Eichhörnchen beim Fressen fotografieren und hätte Angst, es zu vertreiben.
Reitinger fing an zu laufen, so schnell er konnte. Die Kraxe wippte auf seinem Rücken, aber Paula protestierte nicht, es schien ihr zu gefallen.
»Reitinger, spiel dich nicht so auf«, rief ihm Bobby nach. »Du kannst die Welt nicht retten.«
»Du bist ein Drecksack, Bobby«, schrie Reitinger.
Im Laufen merkte Thomas, dass die Frau auf der Brücke auf ihn aufmerksam geworden war. Offenbar wunderte sie sich, was ihn so hektisch hatte werden lassen.
»Bittschön, tun Sie’s nicht«, keuchte Reitinger, als er die Frau erreicht hatte, und bemerkte, dass seine Aktion ein kleines Lächeln auf ihr bleiches, vom Kummer gezeichnetes Gesicht gezaubert hatte. Autos, Räder und Fußgänger, das alles hatte sie offenbar nicht interessiert. Aber auf ihm, dem verschwitzten Mann um die vierzig mit dem kleinen Kind auf dem Rücken, ruhten ihre Augen mit einem verwunderten Blick.
»Was soll ich nicht tun?«, fragte die Frau.
Reitinger stutzte. Wollte sie sich vielleicht gar nicht umbringen? Hatte er sich von Bobby in die Irre führen lassen? Er sah auf die Thundorfer Straße, wo der Kollege vorher noch gestanden hatte. Bobby war weg.
»Der Fotograf ist gerade gegangen«, sagte die Frau. »Was wollte er hier eigentlich fotografieren?«
Thomas wich ihrem Blick aus. Die Frau sah ihn irritiert an. »Mich?«
»Das ist doch ein besonderes Motiv«, lavierte Thomas. »Eine schwarz gekleidete Frau auf dieser Brücke. Überall tobt das Leben, und Sie stehen hier und starren ins Wasser. Keiner kennt Ihre Gedanken …«
»Die interessieren auch keinen«, antwortete die Frau. »Außerdem habe ich nicht ins Wasser geschaut, sondern hinüber zum Schifffahrtsmuseum.«
Thomas sah auf eines der Schiffe, das zum Museum umfunktioniert war. Er konnte nicht erkennen, was dort anders sein sollte als sonst. Aber dann bemerkte er ein Stück Absperr- band, das am Ufer hing und im Wind flatterte. Er erinnerte sich. »Da ist vor zwei Tagen ein Toter angeschwemmt worden.« Die Frau begann, leise zu weinen. »Mein Mann.«
Thomas schluckte. Eine Pause, die allmählich drückend wurde. »Das tut mir sehr leid«, murmelte er. »Ein schrecklicher Unfall …«
»Er ist nicht verunglückt«, sagte die Frau. »Er ist ermordet worden.«
Thomas sah sie überrascht an. Er hatte die kleine Meldung über den Toten in seiner Zeitung gelesen. Da war von ungeklärter Todesursache die Rede gewesen, von einem Unfall oder einem Selbstmord. Wie kam die Frau auf Mord? Sie sah ihn direkt an und erst jetzt fiel Thomas auf, wie jung sie war. Höchstens Mitte zwanzig.
»Sie haben gedacht, ich will mich umbringen, oder?«
Thomas wich der Frage aus und antwortete mit einer Gegenfrage. »Wie kommen Sie denn auf Mord?«
»Das ist eine lange Geschichte.«